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Die Bibliothek der verlorenen Bücher

Prosper Mérimée, Autor der berühmten Novelle »Carmen«, hatte das unschätzbare Glück, nicht miterleben zu müssen, wie seine umfangreiche Bibliothek in Flammen aufging. 1871, ein Jahr nach seinem Tod, verbrannte sein gesamter schriftlicher Nachlass. Doch der 1803 als Sohn eines Zeichenlehrers geborene Mérimée hatte ein hinreichend ironisches Verhältnis zur Literatur, das ihm wahrscheinlich gestattet hätte, über einen solchen Verlust leichten Herzens hinwegzusehen. Mindestens eines seiner frühen Werke, eine Prosatragödie über Cromwell, verbrannte er eigenhändig, auch war er sich nicht zu schade, seine schriftstellerischen Anfänge lächerlich zu machen. Wenn wir heute mit seinem Namen exzessive Leidenschaft und Romantik verbinden, dann verdankt sich dies eher Bizets Oper »Carmen«, die auf der gleichnamigen Novelle basiert, als dem in Vergessenheit geratenen Werk Mérimées. Dieses zeichnet sich durch einen sachlichen und prägnanten Stil aus, zuweilen auch durch einen doppelbödigen und boshaften Humor. Einige seiner Arbeiten sind für uns nicht deshalb interessant, weil sie verlorengingen, sondern weil sie als Werke imaginärer Autoren ein merkwürdiges Schattendasein führen. Die Bibliothek der verlorenen Bücher versammelt sie allein deswegen in einer ihrer zahllosen Unterabteilungen, weil niemand recht wusste, wo man sie einordnen sollte. Mérimées erster großer Erfolg, das »Theater der Clara Gazul«, wurde unter dem Pseudonym Joseph l’Estrange veröffentlicht und für das Werk einer jungen spanischen Schauspielerin ausgegeben, die angeblich vor der katholischen Inquisition nach England geflüchtet war. Die wilden, gleichermaßen komischen und blutrünstigen Stücke, die hier versammelt waren, handelten von beiläufigem Ehebruch, Betrug, Frömmelei, lüsternen Kirchenmännern und kaltblütigem Mord. »Himmel und Hölle« erzählt beispielsweise von der Liebe zwischen einer gläubigen Katholikin und einem Freigeist, die der Beichtvater der frommen Dame zu verhindern sucht, indem er Eifersucht und Zwietracht sät. Die Dame hört zunächst auf den Priester und bringt ihren Liebhaber durch eine Intrige hinter Gitter. Als sie jedoch entdeckt, dass ihr Beichtvater der Betrüger ist, erdolcht sie ihn bei nächster Gelegenheit. »Es war ja nur ein alter hässlicher Kerl!«, lautet ihr Kommentar. Auch Prosper Mérimées zweite Veröffentlichung erschien unter Pseudonym und entpuppte sich als literarischer Scherz: Die achtundzwanzig Balladen der Sammlung »La Guzla« sollten antiken Ursprungs sein und wurden als »illyrische Dichtungen« auch bereitwillig aufgenommen. So ließ Alexander Puschkin durch einen in Frankreich residierenden Freund Erkundigungen über die eigenartigen Lieder einholen. Mérimée gab bereitwillig Auskunft. 1827 hatte er Pläne zu einer ausgedehnten Reise über Triest nach Ragusa geschmiedet, die jedoch wegen seiner notorischen Geldnot nicht verwirklicht werden konnte. In dieser trübseligen, ausweglos erscheinenden Situation hatte er die glänzende Idee, einen frei erfundenen Reisebericht vorab zu schreiben und zu veröffentlichen. Der Erlös des Buches sollte dann die eigentliche Reise finanzieren. Um dem modischen Begriff der »couleur locale« oder des »Lokalkolorits« gerecht zu werden, übersetzte Mérimée für den fiktiven Reisebericht zunächst eine Handvoll Volksdichtungen – genauer gesagt, er schrieb sie zum größten Teil selbst und veröffentlichte sie als Übersetzungen antiker Originale, während das geplante Reisebuch nie erschien. Bei seiner Arbeit ließ er sich von der fragwürdigen Broschüre eines französischen Konsuls in Banja Luka inspirieren: »Der Autor möchte nachweisen, dass die Bosnier gehörige Schweine sind, und er führt recht gute Gründe dafür an.« Doch Mérimée interessierte sich weniger für die Vorurteile des Konsuls als vielmehr für die von ihm zitierten illyrischen Wörter, die seinen Balladen die nötige Authentizität verleihen sollten. Bleibenden literarischen Ruhm erwarb sich Prosper Mérimée mit seinen Novellen, von denen er selbst nicht die berühmte »Carmen«, sondern »La Vénus de L’Ille« als die gelungenste pries: Die Novelle handelt von einem jungen Mann, der einer antiken Venusstatue einen Verlobungsring an den Finger steckt und sie so zum Leben erweckt. Die erwachte Statue sucht ihn in seiner Hochzeitsnacht auf und erdrückt ihn durch ihr Gewicht. Dass die Geschichte ein wenig an Mary Shelleys »Frankenstein« erinnert, ist vielleicht kein Zufall, denn Mérimée und Shelley waren sich 1827 in Paris begegnet. Obwohl die feinsinnige Dame aus England nach einer Pockenerkrankung schwarz verschleiert und mit kurz geschorenen Haaren auftrat, lernte Mérimée sie so gut kennen, dass er ihr einen Heiratsantrag machte, den sie höflich zurückwies. Die beiden waren doch allzu verschieden: Sie mied den Trubel der Öffentlichkeit, den er zu schätzen wusste, sie war stets melancholisch und oft deprimiert, er lebenslustig und zuweilen übermütig. Doch beide hatten Erfahrung im Verbrennen misslungener Dramen. So wie Mérimée seinen »Cromwell« ins Feuer geworfen hatte, hatte die Shelley ein namenloses Theaterstück vernichtet, das weder ihrer Selbstkritik noch der wohlmeinenden Prüfung ihres Vaters und ihrer Freunde standhalten konnte. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass auch ihr Stück von Cromwell und der englischen Republik handelte, da dieses Thema sie brennend interessierte. Prosper Mérimée scheint es Mary Shelley nicht übelgenommen zu haben, dass sie die Verbindung mit ihm verschmähte. In ihrem Leben gab es nur einen Mann, auch wenn dieser schon längst Asche war, während sie sein getrocknetes Herz als Lesezeichen benutzte.

Pechmann, Alexander. Die Bibliothek der verlorenen Bücher (German Edition) . Aufbau Digital. Kindle-Version.

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