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Bruder und Schwester Lenobel

7  

 

Sie ernährten sich von Brot mit Marmelade, Brot mit Schinken, Brot mit Käse, von Kakao, Tee und Kaffee. Am Morgen lag Hanna bis um zehn im Bett oder gleich bis über Mittag, sie unterschieden bald nicht mehr zwischen Tag und Nacht, sie ging im Pyjama von einem Zimmer zum anderen, bückte sich mit durchgestreckten Knien zum Eisschrank nieder, nahm irgendetwas Kleines heraus und aß es noch vor der offenen Eisschranktür. Es roch säuerlich in der Wohnung. Jetti schob die Vorhänge beiseite und riss die Fenster auf  – besonders heftig, um anzuzeigen, dass sie es nicht hinnehmen werde, wenn Hanna sie gleich wieder schlösse  – und sog die Luft ein, und weil sie gerade dabei war, sprühte sie Putzmittel auf die Scheiben und rieb sie ab. Und kehrte durch. Schob den Besen unter die Kästen, pflückte den Lurch aus den Borsten. Sie räumte den Spüler ein und räumte den Spüler aus. Wischte den Tisch ab. Wenn sie in der Vergangenheit zu Besuch gewesen war, hatte es verlässlich Vorwürfe gehagelt: dass sie so lange schlafe, dass sie nicht im Haushalt mithelfe, dass sie vor ihrem pubertierenden Neffen in T-Shirt und Slip herumlaufe und sich die Beine rasiere, dass sie ihre Sachen liegen lasse, wo sie gerade hinfallen, dass sie sich erst gegen Abend ins Bad begebe und dann ja doch nur, um sich für die Nacht aufzudonnern. Höchstens die Hälfte davon hatte zugetroffen. Als sie schon einmal zusammen in dieser Wohnung gehaust hatten, sie und Hanna, weil Robert vor dem Unglück seiner Schwester davongelaufen war, da war Hanna eines Morgens vor der Tür zum Wohnzimmer gestanden, wo sich Jetti auf dem Sofa vergraben hatte, und hatte angeklopft und gesagt: »Jetti, sind wir wieder gut.« Hanna hatte sich zu ihr gesetzt, hatte ihren Kopf in die Arme genommen und ihr übers Haar gestreichelt. Ein Joghurtbecher war umgekippt in der Nacht und vom Glastisch auf das Parkett gefallen. Jetti hatte sich nicht durchringen können, den Boden zu wischen, sie hatte einfach ihre Bluse drübergelegt. Und Hanna hatte alles so sein lassen. Sie hatte nicht geputzt, sie hatte Jetti nicht gebeten zu putzen, sie hatte die Bluse liegen lassen, wo sie war, und auch Jetti hatte es nicht über sich gebracht, sie aufzuheben. Ein Widerwille war in ihr gewesen, sich zu waschen und frische Sachen anzuziehen. Sie hatte geglaubt, es liege daran, dass sie im Begriff war, von München nach Triest zu übersiedeln und sie hier nicht mehr und dort noch nicht sei. Eines Morgens in München war sie aufgewacht, ihr Herz raste, sie ließ sich in einer Apotheke den Blutdruck messen, der war zu hoch, sie ging zum Arzt, den ganzen Weg steckte ein Weinen in ihrem Hals, so dass ihr der Kehlkopf schmerzte, der Arzt beruhigte sie, alles sei in Ordnung. Sie ging ins Kino und wusste beim Hinausgehen nicht mehr, welchen Film sie gesehen hatte. Sie schaute auf das Plakat, las den Titel, nichts darauf kam ihr auch nur bekannt vor, und als sie weitereilte, als hätte sie ein Ziel, erinnerte sie sich nicht mehr, was auf dem Plakat gestanden hatte. Da war sie nach Wien zu ihrem Bruder gefahren. Weil sie dachte, sie habe ja sonst niemanden auf der Welt. Robert aber wollte ihr nicht zuhören, er sagte, das komme vor, besonders bei zur Egomanie und Grandiosität neigenden Menschen, das sei normal. Hanna aber sagte, man müsse sich um Jetti kümmern. Und das hatte sie getan. Über eine Woche waren die beiden Frauen allein in der Wohnung gewesen. Hanna war mit ihr durch die Stadt spaziert, und als Jetti nach hundert Metern sagte, sie wolle nicht mehr, sie wolle nach Hause, drehte sie mit ihr um, und als sie zu Hause sagte, sie halte es zwischen den Wänden nicht aus, begleitete sie Jetti die nächsten hundert Meter, und als sie es draußen wieder nicht aushielt, legte Hanna ihren Arm um sie, und Schläfe an Schläfe kehrten sie nach Hause zurück. In den Nächten hatten sie nebeneinander im Ehebett geschlafen, und als es Jetti zu eng wurde, sie aber doch nicht allein schlafen wollte, drehte sich Hanna, so dass ihr Kopf bei Jettis Füßen war. Am Ende sagte Hanna: »Jetti, sind wir wieder gut.« Jetti wusste, Hanna sprach nicht für sich, denn zwischen ihnen hatte es nichts gegeben in diesen Tagen, weswegen die eine die andere hätte bitten müssen, wieder gut zu sein. Hanna hatte für die Welt gesprochen, der sie angehörte, aber Jetti nicht mehr.  – Solche Nähe war in dem folgenden Vierteljahrhundert zwischen ihnen nicht mehr gewesen. Dazu hätte Jetti erst wieder krank werden müssen.   Vor dem Schlafengehen trafen sie einander dann doch wieder in der Küche. Hanna kochte Milch auf und rührte Kakaopulver hinein und stellte zwei große, dicke Tassen auf den Tisch. »In Hannos Zimmer tickt es«, sagte Jetti. »Aus den Ecken und den Kanten heraus tickt es.« »Das sind Mäuse«, sagte Hanna. »Sie tun dir nichts.« »Ihr müsstet eine Katze haben.« Jetti versuchte zu lachen. »Das fehlte grad noch«, sagte Hanna.    

 

8

 

So ging es weiter. Jetti war, als lebte sie allein in der Wohnung  – aber es war ihr wert, sich nicht gehen zu lassen. Und dann, am Abend des dritten Tages, rief Hanna ihren Namen: »Jetti!«, rief sie. »Jetti! Jetti! Wollen wir nachtmahlen?« »Was für ein schönes Wort«, rief Jetti zurück und trat in die Küche, in dem weißen Kleid ohne Träger (das sie für alle Fälle eingepackt hatte); sie hatte ein ausgiebiges Bad genommen und vor dem Spiegel die nötigen Register gezogen. »Habe ich schon lange nicht mehr gehört, dieses Wort.« »Ich habe es absichtlich gesagt.« »Für mich?« »Ja. Du siehst umwerfend aus, Jetti.« »Danke, Hanna.« »Berauschend. Anbetungswürdig!«

 

 

 

Köhlmeier, Michael. Bruder und Schwester Lenobel: Roman (German Edition) (Kindle-Positionen311-355). Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG. Kindle-Version.

 

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