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Jürgen Habermas (einer der bedeutendsten Philosophen der Gegenwart)

Vor allem globalisierte Märkte und digitale Verbindungen knüpfen, gewissermaßen hinter dem Rücken dieser kollektiven Akteure, netzförmige Interdependenzen. Angesichts der politisch unerwünschten Nebenfolgen dieser systemischen Integration entsteht ein Steuerungsbedarf, dem die Nationalstaaten immer weniger gewachsen sind. Diesen Verlust an politischer Handlungsfähigkeit spüren Politiker und Bürger und klammern sich in ihrer psychologisch verständlichen, aber paradoxen Abwehr umso heftiger an den Nationalstaat und dessen längst porös gewordene Grenzen. (Zitat aus Jürgen Habermas: Der Aufklärer - »Für ein starkes Europa« – aber was heißt das? (Seite2).)

 

Ich beschränke mich an dieser Stelle darauf, die Notwendigkeit eines Politikwechsels mit drei drängenden, aber bisher weitgehend verleugneten Problemen zu begründen. Die Bundesregierung hat erstens die halbhegemoniale Stellung Deutschlands in Europa seit Mai 2010 ziemlich robust ausgespielt und damit in der europäischen Innenpolitik eine Sprengwirkung erzeugt, die durch hinhaltende Beschwichtigungsrhetorik nicht einzudämmen ist; zweitens hat das Krisenmanagement in den letzten Jahren zu einer informellen Ausweitung der Kompetenzen von Rat und Kommission geführt, die das bestehende Legitimationsdefizit der EU völlig überdehnt und damit nationale Widerstände auf den Plan ruft; das eigentlich Beunruhigende an dieser Politik, welche die Koalition nun fortsetzten will,(8) besteht jedoch drittens darin, dass sie die Ursachen der Krise nicht berührt . Die Gefahr eines „deutschen Europas“: Die Bundesregierung hat aufgrund ihres ökonomischen Gewichts und der informellen Verhandlungsmacht im Europäischen Rat die deutschen, vom Ordoliberalismus geprägten Vorstellungen zur Krisenbewältigung gegen Widerstände durchgesetzt und die Krisenländer zu einschneidenden „Reformen“ genötigt, ohne sich erkennbar der gesamteuropäischen Verantwortung für die drastischen Folgen zu stellen, die sie mit dieser sozial einseitigen Sparpolitik übernommen hat. (9) In dieser Haltung gegenüber schwächeren Partnern spiegelt sich ein Mentalitätswandel, der seit der geglückten Wiedervereinigung der Westdeutschen mit 17 Millionen Bürgern einer anderen politischen Sozialisation das Bewusstsein nationalstaatlicher Normalität gefördert hat. Diese Restauration älterer Bewusstseinsschichten hat die Relevanz überlagert, die die europäische Einigung für die Bürger der alten Bundesrepublik schon mit Rücksicht auf die Wiederherstellung der politisch und moralisch zerstörten internationalen Reputation einmal gehabt hat.(10)

 

(8) Zwei (offenbar von Seiten der CDU eingebrachte) Sätze im europapolitischen Abschnitt des Koalitionsvertrages legen die Regierung auf eine Fortsetzung der bisher verfolgten Krisenbewältigungsstrategie fest: „Das Prinzip, dass jeder Mitgliedstaat für seine Verbindlichkeiten selbst haftet, muss erhalten bleiben. Jede Form der Vergemeinschaftung von Staatsschulden würde der notwendigen Ausrichtung der nationalen Politiken in jedem Einzelstaat gefährden.“ Damit wird eine falsche Lesart der Krisenursachen unterstellt und für die Mitgliedstaaten der Europäischen Währungsunion eine Souveränitätsfiktion aufrechterhalten, die dem faktisch bestehenden Entscheidungsspielraum der Krisenstaaten Hohn spricht.

 

(9) „Das Desaster der europäischen Bankenrettung – Deutschland verweigert einen gemeinsamen Fonds“; „Deutschland verhindert eine gemeinsame Rettungsaktion für Griechenland – Madame Non diktiert die Euro-Krisenpolitik“; „Deutschland versucht, die Kontrolle über die Euro-Rettungspolitik zurückzugewinnen und gemeinsame EU-Töpfe zu verhindern“; „Monarchin – Angela Merkel regiert Europa“. So lauten in chronologischer Reihenfolge einige einschlägige Kapitelüberschriften in dem soeben publizierten schonungslosen Krisenbericht der Brüsseler Korrespondentin der „Süddeutschen Zeitung“, Cerstin Gammelin, und des ORF-Auslandskorrespondenten Raimund Löw (Cerstin Gammelin und Raimund Löw, Europas Strippenzieher, Berlin 2014).

 

(10) Dieser Mentalitätswandel lässt sich nicht nur an Filmen wie „Unsere Väter und unsere Mütter“, an der Heroisierung von Heinrich George und an Leitartikeln oder Reden zum 20. Juli 2013 ablesen, sondern auch an der Akzentuierung der Jahreszahlen deutscher Gedenkfeiern im Jahre 2014: Der mit dem NS-Regime verbundene historische Einschnitt des Beginns des Zweiten Weltkrieges vor 75 Jahren tritt fast ganz hinter die beiden anderen Daten zurück – hinter den mit Christopher Clarks „Die Schlafwandler“ national entsorgten Ausbruch des Ersten Weltkrieges vor einem Jahrhundert und hinter die „friedliche Revolution“ vor 25 Jahren, vgl. Volker Ullrich, Nun schlittern sie wieder, (Zitat aus Jürgen Habermas: Der Aufklärer - »Für ein starkes Europa« – aber was heißt das?) (Seite5)). 

 

Keine funktionierende Währungsgemeinschaft ohne Politische Union

 

Das verdrängte Problem einer Währungsgemeinschaft ohne Politische Union: Die beiden bisher genannten Probleme, sowohl die Erschütterung des politischen Gleichgewichts in Europa als auch die fehlende Legitimität der Selbstermächtigung des Europäischen Rates und der erweiterten Befugnisse der Kommission, verstärken den Brüsseler Exekutivföderalismus und rufen dadurch erst recht zentrifugale Tendenzen einer Rückwendung zum Nationalstaat hervor. In den nationalen Öffentlichkeiten wird das gegenseitige Anschwärzen durch die Spaltung Europas in Geber- und Nehmerländer angestachelt. Die reziprok verzerrte Wahrnehmung der obszön ungleichen Krisenschicksale ist auch in der Bundesrepublik durch eine falsche Deutung der Krisenursachen stabilisiert worden. (Zitat aus Jürgen Habermas: Der Aufklärer - »Für ein starkes Europa« – aber was heißt das?) (Seite7)). 

 

Gegen die Radikalisierung des Teufelskreises

 

Die Fortsetzung der bisherigen Politik muss den Teufelskreis, der sich zwischen den drei genannten Problemen eingespielt hat, radikalisieren. Je mehr Kompetenzen Rat und Kommission im Zuge der Umsetzung der Konsolidierungspolitik an sich ziehen, umso mehr bringt das Regieren hinter verschlossenen Türen den Bürgern die schwindende Legitimation des wachsenden Gewichts der Technokratie zu Bewusstsein – und umso tiefer schlittert die Bundesregierung in das Dilemma ihrer halbhegemonialen Stellung hinein: Weil ihr mit jedem Schritt vertiefter intergouvernementaler Zusammenarbeit für Nachbarstaaten, die sie ihrem scheinsouveränen Schicksal überantwortet, objektiv eine immer größere politische Verantwortung zuwächst, verschärfen sich die innereuropäischen Spannungen. (Zitat aus Jürgen Habermas: Der Aufklärer - »Für ein starkes Europa« – aber was heißt das?) (Seite9)).  

 

In Europa haben wir heute glücklicherweise intelligente Bevölkerungen und nicht jene Sorte von emotional zusammengeschweißten nationalen Großsubjekten, die uns der Rechtspopulismus einreden möchte. Für eine nach wie vor in Nationalstaaten verankerte supranationale Demokratie brauchen wir kein europäisches Volk, sondern Individuen, die gelernt haben, dass sie beides, Staatsbürger und europäische Bürger, in einer Person sind. Und diese Bürger können, wenn auch die Medien ihrer Verantwortung gerecht werden, sehr wohl in ihren jeweils eigenen nationalen Öffentlichkeiten an einer europaweiten politischen Willensbildung teilnehmen. Dafür brauchen wir nichts anderes als die bestehenden nationalen Öffentlichkeiten und die vorhandenen Medien. Diese politischen Leitmedien müssen allerdings eine komplexe Übersetzungsaufgabe übernehmen, sobald sich die nationalen Öffentlichkeiten weit genug füreinander öffnen; sie müssen wechselseitig auch über Diskussionen berichten, die in den jeweils anderen Ländern zu den relevanten und alle Unionsbürger gemeinsam betreffenden Themen stattfinden.

 

(Zitat aus Jürgen Habermas: Der Aufklärer - »Für ein starkes Europa« – aber was heißt das?) (Seite11)). 

 

 

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