ROMAN
Klett-Cotta
Das Zitat auf S. 257 von Nick Bostrom wird mit
freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlages abgedruckt.
Klett-Cotta
www.klett-cotta.de
© 2021 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung
Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
Printed in Germany
Cover: ANZINGER UND RASP Kommunikation GmbH, München
Gesetzt von C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen
Gedruckt und gebunden von Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-608-96473-8
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PROLOG
Bevor die Pionierlebensform Archea Methanopyri den Kosmos
mit ihrer ersten Empfindung aufschloss, hatte 10,2 Milliarden
Jahre lang Stille im Universum geherrscht. Für Äonen
waren Protonen, Gas-Partikel und Elektronen in einem
ungesehenen Ballett umeinandergekreist, ehe sie in der
Partnerposition des Heliumatoms ihre Pliés vollzogen. Als
sich nach 300 Millionen Jahren die ersten Galaxien, kräftigrote
Wirbel und ätherische Ringsysteme, bildeten, war noch
niemand da, der ihre Schönheit hätte bewundern können.
Nichts als Vakuum, das sich bis an den kosmischen Horizont
erstreckte.
Aber die Kräfte waren im Gange: Wer hätte gedacht, dass
in diesem fühllosen Ausagieren der Gravitation, im Randbereich
einer dieser Galaxien, sich nach viereinhalbtausend
Millionen Jahren der Staub zu einem Planetenkörper vereinigen
würde? Wüst und wirr schlugen die Elemente,
schlugen Wasserstoff, Kohlenstoff und Stickstoff um sich,
vereinigten sich zu einem Gewölbe und einem Meer, das
schäumend die ganze Erdoberfläche bedeckte, um sich an
den gerade erst entstandenen Molekülen satt zu fressen; elaboriertes
Totsein letztlich auch dies. Die ersten 10 Milliarden
Jahre – metaphorisch, weil niemand die Zeit maß und sie
sich damit aus dem Ereignishorizont absentiert hielt – war
alles Mechanik.
Erst nach weiteren tausend mal tausend mal tausend Son6
nenumkreisungen und einer Unendlichkeit an Permutationen
des Chymischen war der Moment gekommen: Die Eiweiße
in dieser Ursuppe, über der man Gott noch schweben
meinte, fusionierten.
Als das so zusammengefügte Bakterium zum ersten Mal
mit seinem Flagellum schnalzte, raste ein Impuls durch Milliarden
Lichtjahre, von Ewigkeit zu Ewigkeit: Der Kosmos
war sich seiner selbst bewusst geworden. Aus der toten Materie
drang das Leben mit so zielgerichteter Kraft empor, dass
eben dieses Leben sich seine Genese später mit nichts anderem
als einem bewussten Schöpfungsakt erklären würde.
Von da an war alles ein Wimpernschlag: Jedes Geschehen
wurde ein Empfundenes, und jedes Empfundene glich einem
Entwickeln. Das heißt, kaum war ein weiterer planetarischer
Atemzug, eine, zwei Milliarden Jahre vorbei, gab es eine Vielzahl
sich in allen Raumrichtungen bewegender, schauender,
denkend-begreifender Organismen.
Ein Begreifen, das den Wunsch zur Optimierung mit sich
brachte: Wir, die Menschen, wollten nicht nur unser eigenes,
sondern das Leben an sich und seine unendliche, facettenreiche
Intelligenz gestalten. Ein unhaltbarer Fortschritt,
eine Kettenreaktion entfaltete sich: Vom simplen Werkzeug
gingen wir über zur Gestaltung unserer Lebenswelt; vom angesammelten
Wissen über unseren Körper hin zur Heilung
und Verbesserung desselben und schließlich hin zur Schöpfung
sich bewegender Artefakte, die uns eines Tages überlegen
sein würden. Ein Prozess immer größerer Transzendenz,
der das ehedem tote Universum zur Extension des eigenen
Verstandes erklärte.
Eine finale Apotheose und als deren Abschluss: DAVE.
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Als die Uhr vornüberlief und der donnernde Alarm der Spätschicht
den Raum erfüllte, schreckte ich auf und – tock,
schlug der aus meiner Hand gefallene Stift auf den Boden.
Was exakt vor diesem Augenblick geschehen war, erinnerte
ich nicht. Mir war, als wäre ich aus langem, schwerem
Schlaf erwacht, obwohl ich inmitten der Arbeit nur für einen
kurzen Moment eingenickt war. Mein Blick fiel auf das Zitat
über unserer Eingangstür, das Pawel gestern zur allgemeinen
Steigerung der Moral mit Lackstiften dort hingeschrieben
hatte, und ich meinte, es müsse mich an etwas erinnern,
das ich mir vor dem Einschlafen sorgfältig zurechtgelegt
hatte.
»We shall not cease from exploration. And the end of all our
exploring will be to arrive where we started and know the place
for the first time.«
T. S. Eliot
Doch es wollte mir nicht einfallen. Ich sah auf die Digitalanzeige:
Zwanzig Uhr irgendwas und Pawel neben mir auf
der Pritsche – ein Grinsen wie Fred Astaire und eine abschätzige
Kopfgeste in Richtung von Brenner und Langley,
die seit zwei Stunden damit zugange waren, einen Loop zu
konstruieren, den jeder Studienanfänger im Schlaf hätte
zusammenbasteln können. Flaschen, tippte Pawel mitten in
den weißglühenden Code seines Laptops, auf dem wir beide
abwechselnd Zeilen geschrieben hatten. Als würden wir
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nicht ein ebenso erbärmliches Bild abgeben, wie wir uns
da in einem Amphitheater aus leeren Energydrinks, alten
Coding-Manuals und zerrissenen Chipspackungen verpanzert
hatten.
Auf den Wandpanels schräg vor uns akkordierten sich
zwanzig Tänzer zur schwarz-weißen Staffage einer Clubszene:
Wir waren seit geraumer Zeit in eine Phase geraten, in
der wir uns allabendlich mit den 50 er-Jahren benebelten, als
könnten die Romanzen und rauschenden Feste dieser heilen
Zeit unsere Übernächtigkeit verschleiern, die vielen Überstunden,
die frühmorgendlichen Arbeitseinsätze. Für diesen
Abend hatten wir Swing Time auserkoren, und das Klappern
von Pawels Fingern schmolz nahtlos in die Pull Backs von
Ginger Rogers. Ich beobachtete schläfrig ihre stakkatoschnellen
Beine, als mir eine von Vibration schon ganz taube
Stelle an meiner Hüfte bewusst wurde. Erst jetzt verstand
ich, was mich aus dem kurzen Anflug von Schlaf wieder emporgeholt
hatte: Mein Pager war angesprungen und regte
sich seit geraumer Zeit an meinem Schenkel wie ein schnarrender
Käfer.
»Fuck.« Mir dröhnte der Kopf von der Konzentration auf
den blinkenden Cursor im ansonsten stockdunklen Raum.
»Fuck, was?«
Die Schlaflosigkeit war zu unserem entscheidenden Zustand
geworden: Pawel, der nach der Arbeit drei Energydrinks
geext hatte, sprang im Schneidersitz auf und ab, geschüttelt
von der Wucht des Lachens, das dem nächsten Witz
über unsere tumben Zimmerkollegen vorauseilte.
»Fuck, was?«, schrie er nun fast, und ich legte ihm gerade
rechtzeitig meine Hand auf den Mund.
»Pssst«, zischte ich, und er ließ sich artig auf die Pritsche
sinken. Unter uns schlief Eli von der Spätschicht, und dann
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auf der anderen Seite nochmal einer, der unserer Gemeinschaftskoje
erst gestern zugeteilt worden war.
»Ich hab vergessen, dass ich heute jemanden einschulen
soll«, flüsterte ich und schwang meinen Körper von der Pritsche
herab.
»Was, jetzt? Und was tun wir mit diesem halbgaren Zeug
hier? Wir könnten in einer Stunde compilen«, flüsterte Pawel.
»Ça suffit«, antwortete ich und klappte den Computer über
seinen klackernden Fingern zu.
»Spinnst du?« Er schlug mir auf den Hinterkopf. »Ich hab
nicht mal gespeichert.«
Ich drehte mich derweil wie ein Entfesselungskünstler in
meinen Kittel hinein und arbeitete mich dann zu meinen
Schuhen vor, dabei alle Körper umschiffend, geometrische
wie menschliche.
»Bis später«, flüsterte ich in Pawels Richtung und hatte
kaum die Tür geöffnet, als mich schon das Neonlicht des
Kreisgangs erfasste. Ich breitete die Handteller über meine
Augen, bis meine Pupillen auf den kleinen Kaffeestand nahe
der Rolltreppe scharf gestellt hatten. Hinter gläserner Kredenz
stand rund um die Uhr Rosa, eine rüstige Mittsiebzigerin,
die gemeinsam mit ihrer Mutter Getränke feilbot.
»Guten Abend, Syz. Was machst du um diese Uhrzeit
hier?«, fragte Rosa, während die betagte Altverkäuferin, der
das Leben das Kreuz in einen Neunzig-Grad-Winkel zu ihren
Beinen zementiert hatte, unter der Anrichte aufgetaucht
war.
»Einschulung. Ausnahmsweise in der Nachtschicht. Links,
links, ein bisschen weiter, ja da«, sagte ich, wie beim Topfklopfen
die Hand der fast blinden Mutter dirigierend, die um
die Kaffeekanne mäanderte. Es berührte mich jedes Mal
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peinlich, dass die Verhältnisse des ersten Stocks die Greisin
dazu nötigten, noch immer zu arbeiten. Ich stieg in den
Aufzug, einen Doppelespresso in meiner Hand, während
meine Sinne im abendlich gedämpften Raum langsam alert
wurden.
Treffpunkt Drehkreuze, lallte ich mir vor, damit mein
bettwarmer Körper es nicht in einer achtlosen Sekunde verschustern
würde. Der sanfte Strom der Nachtschicht, viertausend
Menschen insgesamt, hatte mich erfasst, und ich
ließ mich willenlos mittragen. Bald übertraf meine Erschöpfung
meine Unlust, bald wieder war es umgekehrt – ich hatte
immer eine Vorliebe für die Atmosphäre der Nacht gehabt:
Krankenpfleger und Ärztinnen, die ihre hygienisch gekochten
Kittel in den Krankenflügel austrugen; Reinigungspersonal,
das mit surrenden Maschinen die Überschüsse des Tages
beseitigte; Lieferanten, die Paletten von Lebensmitteln für
die Menüs des nächsten Tages auf den Weg brachten. Leise
Konzentration, die tagsüber von den Schreien der Schulkinder
überschüttet war.
Das Licht des grell ausgeleuchteten Flurs brannte mir sekkant
in den Augen, als ich die Drehkreuze erreichte. Ich befand
mich noch immer in jenem seltsamen Zustand der Entrücktheit,
in dem ein kurzer Schlaf einem die Welt verzerrt:
alles weich und teigig und die Menschen zu einer konturlosen
Masse verronnen, die man mit dem Handrücken wegzuwischen
sucht.
In diesem Moment sah ich sie.
Sie hob sich von der Menge ab wie ein leuchtender Punkt:
Schwarze Locken über roter Basis; im Gegensatz zu allen anderen
hatte sie statt eines Kittels einen purpurnen Pullover
an, und sie war auf so harmonische Weise hoch gewachsen,
dass sie selbst die überragte, die noch größer waren als sie.
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Sie schien angestrengt auf der Suche nach etwas, und auf
einmal wusste ich, wonach: Aber da hatte sie mich schon gesehen.
»Syz«, sagte sie und ergriff meine Hand. »Ich bin Khatun.
Entschuldige die Uhrzeit, ich dachte, du könntest vielleicht
– « Sie gab mir einen weiteren Kaffee in die noch freie
Hand, sodass ich nun, von zwei Bechern blockiert, dastand
wie ein imbeziler Idiot.
»Ich hab noch keine eigene Berechtigungskarte«, sagte
sie.
»Ja, natürlich«, rief ich ein wenig zu laut, verrenkte mich
erbärmlich beim Versuch, meine Hosentasche zu erreichen,
schüttete, während ich das Drehkreuz mit meiner Karte
entriegelte, den Inhalt des einen Bechers über meine Hose
und zuckte nicht einmal, als die brühwarme Flüssigkeit die
Schenkelpartie durchweichte.
»Willkommen im Großraumbüro«, sagte ich, um von meinem
Malheur abzulenken. »Wir sind hier in drei Schichten
geteilt: Morgen, Mittag, Abend. Morgen dauert von 6 bis
16 Uhr, Mittag von 12 bis 22 und Abend von 20 bis 4 Uhr, quasi
überlappend.«
»Wie an den Fließbändern im ersten Stock.«
»Zudem sind wir in Sektoren geteilt, A bis G, das heißt,
nach Zuständigkeitsbereichen in Bezug auf die inhaltlichen
Komponenten der SCRIPTs, und diese Arbeitsgruppen sind
dann – «
»Weiß ich.«
Wir lavierten zwischen den geclusterten Schreibtischen
hindurch, deren Auslassungen nicht breiter waren als dreißig
Zentimeter, vorbei an den Programmierern, die in nicht
geringerer Beengtheit vornübergefallen über den Tastaturen
hingen.
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»Kannst du mich in ein paar Methoden einschulen, um
meine Würde hier halbwegs zu wahren?«
Sie notierte sich alles, was ich sagte, nur seltsamerweise
von oben nach unten statt waagrecht. Ich sah zu den Programmierern
hinüber.
»Man gewöhnt sich daran«, sagte ich entschuldigend, auf
einmal war mir alles unendlich peinlich. Was für ein Anblick,
war man nicht selbst in jener Trance: Wie die Software-
Ingenieurinnen mit Scheuklappenbrillen und Kopfhörern an
den Schirmen saßen, aus denen gedämpft die Technobeats
drangen. Aus Zeit und Raum gefallene Junkies.
»Was in aller Welt treibt die da an?«, fragte Khatun und
zeigte auf eine Frau, die zwei leere Küchenpapierrollen mit
Klebeband an ihrer Brille einerseits und am Bildschirm andererseits
befestigt hatte.
»Sie ist im Tunnel«, antwortete ich. »Der kleinste Fehler,
ein vergessenes Semicolon, ein Syntaxfehler, kann ein SCRIPT
zum Absturz bringen. Alles umsonst. Jeder hat sein eigenes
System, und manche muten ein wenig seltsam an.«
»Kannst du mir eines empfehlen?«
Für einen winzigen Augenblick wagte ich es, direkten
Blickkontakt mit ihr aufzunehmen: zarte Fäden, die an einer
Stelle zogen, die ich nicht greifen konnte, weit zurück in der
Vergangenheit. Ich meinte, dieses Gesicht schon einmal gesehen
zu haben, doch weigerte die Erinnerung sich, Kontur
anzunehmen – und immer wenn ich meine Hand nach ihr
ausstreckte, dispergierte sie.
»Entschuldigung, ich hab vollkommen vergessen – «, sagte
ich und zog mir das Hemd in einem plötzlichen Anflug von
Scham über meine Brusthaare hoch. »Hast du Software- oder
Maschinendesign studiert? Wofür schule ich dich überhaupt
ein?«
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»Weder noch – ich gehöre zu den unteren zwanzig Prozent
«, sagte sie grinsend und ließ sich auf einen Stuhl an
einem freien Tisch fallen. »Ich bin Medizinerin.«
»Du arbeitest mit Menschen?«
Jemand kam und machte Anstalten, sich zur Arbeit niederzulassen,
doch sie verscheuchte ihn mit hastigen Gesten.
»Wir haben hier eine Einschulung, suchen Sie sich einen anderen
Platz. Ja, im fünften Stock auf der Kinderabteilung als
Volksschulärztin. Letztes Jahr ereilte mich die Einsicht, dass
ich Menschen nicht mag.«
»Das hier ist sein Computer.« Ich zeigte auf den Mann, der
sich sofort artig entfernt hatte.
»Und jetzt werde ich wohl an Locomotionproblemen mitarbeiten.
Du kannst also bei den Basics beginnen, das letzte
Mal habe ich auf dem Gymnasium programmiert. SCRIPTs – «
»Du weißt, wie sie funktionieren?«
»Halbwegs. Sie sind Basiskompetenzen der Sprach- und
Kommunikationsfertigkeit, skizzieren sozusagen, wie man
mit einer bestimmten Situation umgeht, oder nicht?«
»Der Übersicht halber bearbeitet immer nur ein Programmierer
ein SCRIPT«, sagte ich. »Man bekommt Anfang des
Monats ein bestimmtes Programm zugeteilt: etwas im Restaurant
bestellen, ein Kompliment erwidern, auf eine Aussage
hin nachfragen, auf etwas Gesagtes Bezug nehmen oder
sich bedanken.«
»Ihr seid viertausend Programmierer, das mal zwölf, natürlich
pro Jahr – Moment: Wie viele solcher SCRIPTs gibt es
denn bereits?«
»Etwa eine halbe Million«, sagte ich.
»Und DAVE ist noch immer nicht komplett?«
»Du musst dir vorstellen, dass jeder Mensch, und sei er
auch noch so ein Idiot, Millionen solcher SCRIPTs beherrscht.«
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Ich war aufgestanden, mir war unbehaglich geworden. »Wenn
DAVE erst einmal eigene Erfahrungen zu machen beginnt –
selbst Wissensdurst entwickelt, und das alles mit unendlich
gesteigerter, mentaler Kapazität, dann – kannst du dir das
vorstellen?«
»Ja, wenn.«
»Die erste, rekursiv sich verbessernde, generelle Intelligenz;
eine Singularität, der Anfang und das Ende von allem.«
»Mir kommt es ehrlich gesagt so vor, als gäbe es jedes Jahr
nur noch mehr Ausfälle.«
»Die Sache ist eben sehr diffizil«, sagte ich. »Oft stellt sich
heraus, dass winzige Verbindungen fehlen – Funktionswörter,
Präpositionen«, ich fuhr mir mit dem Ärmel über die
Stirn, obwohl ich nicht schwitzte. »Ich meine – weißt du, was
Simulationen sind?« Sie nickte und drehte den Block wieder
senkrecht.
»Das ist wie ein Videospiel, oder? Um die SCRIPTs zu testen,
wird DAVE durch eine virtuelle Umgebung geschickt;
ich hab ein paar im Fernsehen gesehen – «
»Wir machen etwa alle zwei Wochen eine. Heute Nacht ist
auch eine geplant, schau, dort bauen sie schon auf.« Ich zeigte
nach rechts hinten, wo einige Techniker eine Leinwand herabließen.
»Müssen die Programmierer währenddessen etwas tun?«
»Nur Supervision. Der Sinn der Sache ist ja eben ein Test
der Autonomie DAVEs. Wir protokollieren nur – jedes Zögern
und Halten der Programme, die Impräzisionen, die auf die
Schleißigkeit des Menschmaterials zurückzuführen sind.«
»Menschmaterial!«, rief sie und lachte.
»Unsere Hardware«, verbesserte ich verlegen.
»Auch nicht besser.«
»Die Simulationen«, setzte ich noch einmal neu an, »sind
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eine Vorwegnahme jener Zukunft, in der DAVE selbsttätig
über die SCRIPTs hinausgehen und Bewusstsein entwickeln
wird. Er wird uns wie Kinder an der Hand nehmen, beinahe
wie ein Gott nur viel besser, weil es ihn wirklich gibt.«
»Es ist keine gerade reizvolle Vorstellung, von einem Metallkasten
an der Hand genommen zu werden. Möchtest du
Schokolade?«, fragte sie unbeirrt und zog einen ziegeldicken
Block aus der Tasche – ein wahres Milchungetüm.
»DAVE ist kein Metallkasten«, antwortete ich. Ich hatte sie
ja zu beeindrucken versucht mit dieser weihevollen Verheißung.
»Also?«
»Ich esse keine Schokolade«, sagte ich. »48 Gramm Zucker
pro 100 Gramm. 38 Prozent höheres Risiko für Herzkreislauferkrankungen
und eine Verkürzung der Telomere, was zu
schnellerer Zellalterung führt. Weniger zerebrale Leistungsfähigkeit.
«
»Na dann«, antwortete sie und schob sich einen Quadranten
ihrer Riesentafel in den Mund. »Ich glaub, ein paar
Hirnzellen weniger würden mir guttun, ich habe mit der Intelligenz
keine so guten Erfahrungen gemacht, bisher. Apropos
– was wird denn, wenn diese paradiesische Fertigstellung
statthatte, mit uns Programmierern geschehen?«
Für einen Moment schwiegen wir, und nun nahm ich
doch ein Stück der dargebotenen Schokolade.
»Ich verstehe nicht, was du meinst.«
»Na ja, im Utopiefall: Unendliche Intelligenz und die Kapazität,
alle Probleme zu lösen, und er – warum übrigens überhaupt
er? Was ich meine, ist: Haben wir uns eigentlich auf
eine Problemstellung geeinigt?«
»Er kann eben alle Fragen beantworten, das ist der Punkt.
Zweifelst du an künstlicher Intelligenz?«
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»Ich zweifle sogar an natürlicher«, sagte sie und schien,
während sie den Rest der Tafel vertilgte, konzentriert nachzudenken.
»Könnte es nicht sein, dass in unserem Fall die
Technologie den Problemen vorausgeht? Wir konstruieren
einen universalen Apparat und suchen dann erst seine Anwendungsgebiete.
«
»Wieso willst du dich überhaupt versetzen lassen, wenn
du es für so sinnlos hältst?«, sagte ich abschätzig, bereute
meine Worte aber sofort. Zum Glück schien sie keineswegs
nachtragend.
»DAVE ist so ähnlich wie deine Uhr da.« Sie zeigte auf den
Fitnesstracker an meinem Arm, den ich irritiert zurückzog.
»Erstens haben wir genug Probleme, die es zu lösen gibt«,
erwiderte ich, »zweitens mussten die Gebrüder Wright auch
nicht erst darüber nachdenken, wohin sie mit ihrem Flugzeug
fliegen würden, es konnte ja schlechterdings überall
hinfliegen. Und was bitte ist falsch an meiner Uhr?«
»Nichts. Sie misst deinen Puls, deine Sauerstoffsättigung,
deine Atemfrequenz, deine Körpertemperatur – und dann errechnet
sie mit Big Data retrospektiv die Probleme deines
Körpers. Ist das nicht traurig?«
Bei diesen Worten hatte sie ein Stück der Aluminiumverpackung
zusammengeknüllt und der Frau mit der Küchenrollenbrille
an den Kopf geworfen.
»Bist du wahnsinnig?«, flüsterte ich und hielt ihre Hand
fest, während die Angeschossene ihre Augen hysterisch aus
dem Gaffaband befreite. Doch lockerte ich sofort wieder meinen
Griff; etwas an dieser Übertretung hatte mir imponiert.
»Wieso schreibst du von oben nach unten?«, fragte ich beiläufig,
wie um den moralischen Impetus meines Ausbruchs
unter den Teppich zu kehren.
»Ach – meine Muttersprache ist Persisch«, sagte sie, als sei
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das nicht weiter bemerkenswert. »Und das schreibt man von
rechts nach links, also gewöhnen sich viele an, das Papier zu
rotieren, um die Buchstaben nicht zu verwischen. Habe ich
mir sagen lassen. So – « Und sie hielt den Block geneigt vor
meine Augen.
»Eine Sekunde – deine Muttersprache ist Persisch? Ich
dachte, das gäbs kaum mehr.«
»Das stimmt – ich schätze, wir sind alles in allem noch
200. Aber meine Eltern sind Putzfachkräfte. Deswegen muss
ich hier ja auch bei Adam und Eva beginnen.«
»Putzfachkräfte«, sagte ich verlegen.
»Ärztin zu sein ist ja auch nicht viel besser«, sagte sie und
zum ersten Mal klang sie dabei verbittert. »Beides klassische
Erststöcklerberufe eben. So, und jetzt erzähl mir etwas über
dich, bevor ich dir meine ganze Biographie auseinandergesetzt
habe«, sagte sie und lächelte mich endlich an.
Ich erkannte das Gefühl wieder, obwohl ich es seit Jahrzehnten
nicht empfunden hatte – eine Wärme, eine Handbreit
unter meinem Brustbein, die sich gegen meinen Magen
rieb. Eine unbestimmte Sehnsucht, wie ich sie als Kind empfunden
hatte, wenn ich Liebesszenen in Disneyanimationen
sah.
»Wir sollten lieber weitergehen«, sagte ich, statt ihrer Aufforderung
zu folgen, und richtete den Blick wieder zu Boden.
»Hier in der Mitte des Saales siehst du eine zwei Mal zwei
Meter große Säule – das ist quasi der Solarplexus der Anlage,
ein Glasfaserbündel, über das pro Sekunde ein paar hundert
Terabyte mit dem Zentrallabor synchronisiert werden. Dort,
wo DAVE steht.«
»Hast du ihn jemals in realitas gesehen?«
»An DAVE selbst dürfen nur die Professoren und ein paar
Ingenieure arbeiten.«
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Wir hatten eine ganze Runde durchs Großraumbüro gedreht
und den Zweck einer kurzen Einführung längst ausgeschöpft;
jetzt überlegte ich fiebrig, wie ich eine weitere Runde
rechtfertigen konnte – doch als wir die Drehkreuze erreichten,
folgte sie mir einfach fraglos.
»In Wirklichkeit besteht DAVE, wenn man so will, aus dem
gesamten Labor. Seine Daten sind ausgelagert in den dreieinhalbtausend
Quadratmetern von Serverhallen, die Prozessoren
befinden sich in einer eigenen Halle des zweiten Stocks.
Und der Arbeitsspeicher – den Arbeitsspeicher stelle ich mir
oft als uns alle vor.«
»Äußerst poetisch – du klingst nicht wie der typische Programmierer.
«
»Ich führe mir abends meine Dosis Weltliteratur zu. Dostojewski
oder Proust, Nabokov, solche Dinge. Als eine Art
Exorzismus.«
»Das machst du ganz ordentlich«, sagte sie. »Lass uns zur
Abwechslung mal ein wenig nüchtern sein, damit dir Krieg
und Frieden am Abend auch wirklich schmeckt.« Und ohne
noch ein Wort zu sagen, gingen wir für eine halbe Stunde im
Kreis. Alle paar Minuten drehte ich mich nach hinten, um
mich zu versichern, dass sie noch da war. Ich hätte ewig so
weitergehen können – hätte mich in der gedämpften Stille
der Nacht auflösen mögen, die mir nun so romantisch schien
wie die leise Geschäftigkeit fast leerer Diners in alten amerikanischen
Filmen, in denen die Paare saßen, bis es tagte.
Nach der dritten Runde aber stoppte sie bei den Drehkreuzen.
»Ich hasse es, unsere Umkreisungen zu beenden, aber es
ist nach zwei – «
»Pardon, ich habe die Zeit übersehen.«
»Muss um sieben raus und zusätzlich zu meinen Einschulungen
noch immer das Menschmaterial warten – «
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»Natürlich. Bitte. Danke«, sagte ich konfus. Ich wühlte
nach meiner Karte, fand sie und wusste doch nicht gleich,
was tun.
Für einen Augenblick standen wir verlegen voreinander,
als wüsste keiner von uns, wie nun zu handeln sei – und
mehr noch: wie wir unser Unwissen über ebenjenes Handeln
voreinander verbergen sollten. Als wir uns schließlich ansahen,
spürte ich meine Organe von Ameisenscharen durchlaufen.
»Danke für die Einschulung«, sagte sie und trat einen
Schritt weg von mir. »Ich hoffe, wir sehen uns irgendwann
wieder.«
Mechanisch entriegelte ich das Drehkreuz mit meiner Berechtigungskarte,
fast enttäuscht, dass es grün aufblinkte
und uns aus unserer Magie entließ. Ich könnte sie noch nach
ihrer Nummer fragen, dachte ich fahrig. In der Ewigkeit
ihres Handtaschenräumens klammerte ich mich noch an
die Vorstellung, sie würde mich vielleicht nach meiner fragen,
da sah ich in ihrer Hand schon ihre Schlüsselkarte
glänzen. Ihr meine Hand hinzustrecken, war eine Resignation.
Sie aber, in einer einzigen flüssigen Bewegung, schwang
sich an meinem Arm vorbei und schloss mich in eine feste
Umarmung. Ein Riss: Als ich Khatun Mnajouri zum ersten
Mal roch, geschah mir etwas, das mir nie zuvor widerfahren
war. Ich erinnerte mich wohl an etwas – doch nicht an etwas
Geschehenes, sondern an die Zukunft; ihr Duft war ein
Versprechen auf etwas, das ich noch mühselig an die Oberfläche
zu zerren versuchte. Ein inverses Déjà-vu, das sich auflöste,
nachdem Khatun sich umgedreht hatte und ungeahnt
schnell im Aufzug verschwunden war.
Ich trat meinen Heimweg an. Bald verlief ich mich – drehte
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zerstreut um, mir lag nichts am Weg, doch realisierte ich
wohl, dass immer mehr Menschen stehen blieben, als würden
sie auf etwas lauschen. Ein leiser Tinnitus hatte sich in
der Stille der vereinsamten Gänge zu erkennen gegeben. Erst
als das ohnehin zögerliche Rinnsal der durch die Gänge sickernden
Menschen ganz zum Erliegen kam, wurde es offenbar:
Das sanfte Pfeifen wurde von einer weit her donnernden
Sirene abgelöst, die sich mit einem Mal über unsere Köpfe
erhob. Obwohl ich das Signal noch nie gehört hatte, wusste
ich, was es bedeutete. »Der Zentralalarm«, rief jemand – aber
da war schon alles in Aufruhr.
Binnen weniger Minuten waren hunderte Assistenten auf
die Gänge gestürzt. Ich sah mich träge um, es war schwer zu
fassen, was da plötzlich alles geschah: Die einen purzelten
über die anderen, wie Kehrwasser, die im Strom verwirbelt
wurden. Der Notfallplan sah vor, dass wir uns zum Großraumbüro
begeben mussten, dorthin, woher ich gekommen
war. Ich wurde erfasst, ich wurde mitgetragen, bald lief ich.
Es war unsäglich heiß: Ich begriff inmitten dieser Stampede,
dass ich nicht bloß schwitzte, weil wir Schulter an Schulter
liefen – sondern dass tatsächlich eine Temperatur herrschte,
die einem die Wände auf den Leib rücken ließ. Knapp unter
der Decke hatte sich ein Flimmern ausgebreitet.
Ich sah mich hastig um; überall Ratlosigkeit. Dergleichen
hatte keiner je erlebt: Die Hightech-Kühle, die ich bisher für
den einzig möglichen Zustand der Welt gehalten hatte, war
verflogen, und man schien einander den Sauerstoff vor den
Lippen wegzuatmen.
»Hackerangriff, schätze ich«, sagte jemand hinter mir. Es
war Dunder aus der 13, ein hochgewachsener Mechatroniker,
den ich aus der Mensa kannte. »Die Pipes kühlen nicht
mehr – Hitzeausfall«, rief ein anderer von hinten, ich machte
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mir nicht einmal die Mühe, mich umzudrehen. Der Alarm
donnerte seit Minuten über uns, zwischen uns, überall in
dieser klaustrophobischen Enge.
In der Aula der Fröhlichen Menschen und Tiere trafen die
Ströme des Ost- und Südquadranten auf den unseren: Im
Mündungsbereich der Freemanbrücke scherten die Ingenieure
ein, dann die Techniker, die ihre antistatischen Schuhe
und Werkzeugkoffer mit sich führten. Dazwischen schwammen
all jene, die im Notfallplan keine Funktion bekleideten:
Verkäufer und Lehrer, Alte und Familien, die von der Sirene
überrascht worden waren, versuchten, sich an die Ränder zu
retten.
Da zeigte jemand nach oben, und der Blick der ganzen
Masse folgte seinem Finger: Mit unverhohlenem Grauen
starrten alle zur riesigen Fotografie, die über der Aula thronte.
Über den Gesichtern von Samson, Deutsch, Wagner und
Dennis flimmerten die Hitzewellen.
Wüst und wirr: Ich presste mich nach unten, war einen
Moment im Wald aus Waden, hechtete in Panik zur Seite und
schlug, noch immer in der Hocke, an die Seitenwand der gläsernen
Freemanbrücke, durch die ich nun in die zweite Etage
sehen konnte. Fünfzehn Meter unter uns, rund um das Zentrallabor,
in dem DAVE stand, hatte sich ein Pulk gebildet,
dessen Manöver ihn wie eine ausgefaserte, komplexe Lebensform
erscheinen ließ: Hysterisch wabernde Bewegung,
die sich um das Heiligste versammelte hatte, um die wertvollsten
elektronischen Komponenten zu retten.
Ich richtete mich auf: Zäh setzte sich der Strom in Bewegung,
also liefen wir den Gang abwärts und die letzte Stiegenflucht
wieder hinauf, während über unsere Köpfe Fröhlichs
Stimme donnerte. »Gruppe 1, Leihgeräte in Sektor A,
Stromanschluss unter den Tischen. Gruppe 2, Nachtschicht
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bleibt an den Standgeräten. Gruppe 3, externe Harddrives
manuell auswerfen.«
Tausend Mann Programmierkraft vereinigt, schossen wir
wie einzelne Munitionspartikel mit unseren Berechtigungskarten
durch die Drehkreuze ins Großraumbüro. Die Nut,
an der mein Inneres zusammengeschweißt war, blitzte auf:
Das Büro war zum Brechen gefüllt, kein Quadratmeter, der
nicht mit Bewegung angeräumt war. Schulter an Schulter,
ein unsägliches Stimmengeschwader, ein Flimmern aus Armen,
Beinen, Rümpfen. Ein atmosphärisches Knistern in der
Luft, Entladungen, umfallende Stühle und jede Minute mehr,
die durch das Drehkreuz hereinstolperten. Ich gehörte zu
Gruppe 1, meine Anweisung lautete, einen Laptop zu greifen
und eine freie Steckdose zu finden.
Keine der Tischflächen schien noch Platz herzugeben, also
kroch ich unter einen der Tische, durch die Kabel, bis ich
tatsächlich eine freie Buchse fand. Tritt eine Überhitzung der
Serverfarm eins auf, das heißt, ein Partial- oder Totalausfall der
Systeme, muss eine manuelle Sicherung der Daten jedes einzelnen
Mitarbeiters sowie der Gesamtsysteme in komprimierter Form auf
die Back-up-farm erfolgen, hatten wir gelernt – aber wie mit
drei Exabyte an Daten fertigwerden?
Egal für den Moment, es galt, sich schnellstmöglich einzuwählen
und im Tunnel zu verschwinden. Die Welt und ihre
ganze Rhythmik fächerte sich in dunkle Gänge auf: Programmzeilen,
kombinatorische Schluchten, in deren Fluchtpunkt
ich mich selbst als Projektionszentrum verlor. Alles
was zählte, war der nächste Befehl.
Dass man in DAVE zum Glied eines kollektiven Wirkens wird,
ist der Beginn einer Ekstase. Das Einssein mit der Schöpfung
hatte ich stets im Programmieren wiedererkannt, in DAVE
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wurden wir zum Bestandteil eines zukünftigen All-Bewusstseins
– der technischen Transzendenz. »Da ward seine Seele
entrückt, ob im Leib, ob außer ihm, das wusste er nicht«,
schreibt der Mystiker Heinrich Seuse, »Wünschen war ihm
entfallen, Begehren entschwunden, er starrte nur in den
hellen Abglanz, in dem er sich selbst und alles um ihn herum
vergaß.«
Ein heller Abglanz: Ich kam wieder zu mir, als jemand das
Display meines Laptops zuschlug. Die weißen Buchstaben
stachen noch hell in die Dunkelheit, dann war alles wieder
in die Kontur getragen: Ein Mann mit weißem Vollbart hielt
mich an der Schulter gepackt. Erst da wurde mir die Stille bewusst
– das Großraumbüro war leer.
»Was machst du denn unter dem Tisch?«, fragte er mich.
»Wir sind alle nach unten in die Serverfarmen gerufen worden.
« Und er zog mich, ohne eine Entgegnung abzuwarten,
auf die Beine.
Während wir den Weg Richtung Stiegen einschlugen, beobachtete
ich ihn und wurde mir nicht recht eins mit meinen
Eindrücken: Die niedrige Stirn, Augenbrauen, die sich
nach unten bauschten, vor allem aber sein Hinken, dieses
seltsame, vertuschte Hinken – ich erinnerte mich vage, ihn
bereits einmal gesehen zu haben.
Mit einem Pulk Menschen, der wie wir nach unten unterwegs
war, durchquerten wir die Maschinenhallen. Wir passierten
die Schaltzentralen im zweiten Stock, nahmen eine
Abkürzung durch die leer gefegten Konstruktionshallen, und
ich fragte mich, wie dieser Mensch die Architektur des Labors
so verinnerlicht haben konnte. Schwitzend erreichten
wir den ersten Stock.
Fabrikschluchten und Elendsquartiere, so tief gelegen,
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dass ich meinte, wir müssten bald an den Erdkern stoßen, wo
Hebel und Dampf die Mechanik des Planeten antrieben.
Um die Wasseraufbereitungsanlage stand eine Hundertschaft
von Menschen, die Kübel um Kübel zur Kühlung ins
Abseits schleppten. Wieder andere machten sich mit Handpumpen
an der Wand zu schaffen, und von weit hinten hörte
man Rufe, die sich im Zwielicht zerschlugen. Die Beleuchtung
war ausgefallen. Stattdessen überzog das bläulichschwache
Licht der Notaggregate das ganze Geschehen.
»Wohin gehen wir?«, fragte ich schließlich den Mann, den
ich noch immer umschlungen hielt, obwohl das Blut seit geraumer
Zeit in meine Beine zurückgeflossen war.
»Wir müssen die Cat5s einzeln rausziehen.«
»Die Serverkabel?« fragte ich träge.
»Ja«, sagte er, »die Temperatur in den Anlagen ist um
30 Grad gestiegen.«
Und als wären wir damit endlich auf den Grund gestoßen,
ließ er meinen Arm fallen und verschwand. Um mich brausten
die Menschenmassen.
Es brauchte niemanden, der einem sagte, wo man sich zur
Mithilfe eingliedern sollte: Die Termitenschwärme, die das
Großraumbüro verlassen hatten, rissen nun ungeordnet Kabelbüschel
aus den Wänden. Bläuliche Aderkränze bedeckten
bereits die Böden der fünfhundert Meter langen Schluchten.
Die solide Eindeutigkeit der Laborhierarchie, in der jeder
bisher seine exakte Position hatte verorten können, war in
Chaos zerschlagen.
Ich selbst kannte die Serverfarm nur von Bildern: Hunderte
von Rechnern waren in zwei Meter große, metallene
Rahmen eingehängt und zu Gängen vereinigt: Blinkende,
heiße Canyonwände, die von Wasserkühlungen 24 Stunden
lang an der Überhitzung gehindert werden mussten. Die
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Leute hatten sich Schuhe und Hemden ausgezogen, und der
Dampf stand zwischen ihnen. Ich brauchte einen Moment,
ehe ich begriff, dass der in der Luft liegende, beißende Gestank
nicht von durchschmorten Kabeln herrührte, sondern
der Geruch verbrannten Fleisches war. Von hinten rannte ein
junger Mann an, man schüttete Wasserkübel auf die Rechner,
auf denen die Flüssigkeit unter Zischen verdampfte.
Ich drängte mich im Laufschritt durch das Gewühl der
Menschen, die am Boden knieend Kabel entfernten, sah Blutflecken
auf den Geräten und hörte Schreie von denen, die
beim Umdrehen das heiße Metall mit der Schulter berührt
hatten. Dann zog ich mir Kittel und Hemd aus, umwickelte
meine Hände mit der Kleidung und begann, die Kabelstrünke
zu entwurzeln. Bald war ich nicht mehr allein: Die Menschenwand
rückte Zeile für Zeile näher. Eine Atmosphäre,
wie ich sie mir im brühenden Maschinenraum eines Dampfschiffs
vorstellte. Meine Augen tränten, doch ich riss weiter,
eine Stunde, vielleicht zwei – es hätten zehn sein können in
ihrer Einförmigkeit, hätte nicht auf einmal das Hemd, das
ich um die Hand trug, Feuer gefangen und sein Ausdämpfen
ein Loch in die fortlaufende Zeit gestanzt. Ängstlich trat ich
mit dem Schuh auf die Flamme – doch als ich mich wieder
zusammengerissen hatte und der brandlöchrige Fetzen um
die Faust geschlungen war, hatte ich den Anschluss verloren.
Dichte Nebelwände, die aus unter Druck stehenden Kolben
strömten, vernichteten jede Orientierung; das Geräusch malmender
Zylinder schien aus der Ferne heranzurollen. Die
Menschenfront war weitergerückt; obwohl ich ihr nervöses
Ächzen hörte, konnte ich sie nicht mehr ausmachen. Aus
einem Impuls heraus lief ich los. Dass es die falsche Richtung
war – diametral zu der, in die sich das Kollektiv bewegt
hatte – würde ich erst später merken.
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Das war die erste meiner Fehlentscheidungen an diesem
Tag: Versehentlich war ich abgewichen von dem, was der
Notfallplan vorsah, hatte mich von den anderen entfernt,
statt in die Sicherheit der Gemeinschaft zurückzukehren. Als
ich die gänzlich unberührten Leitungen vor mir stecken sah
und begriff, dass ich auf eine der unbeackerten Schollen getroffen
war, war es zu spät. Beißender Gestank des Kabelbrandes
breitete sich aus, milchigweiß zur Decke hin. Ich
ging in die Hocke, kroch mehr, als zu gehen, fiel, schlug mit
dem Kopf an den heißen Stahl, schrie, erschreckte vor diesem,
meinem eigenen Schrei und blieb auf dem Bauch liegen.
Dicht am Boden, wo der Rauch nicht hindrang, herrschte
klare Sicht: Dort lag, kaum einen Meter von mir entfernt,
eine Mitarbeiterkarte auf dem glühenden PVC-Boden. Ich
hätte aufstehen und laufen sollen, hätte zum Ausgang stürzen
müssen oder weiter nach den anderen suchen. Stattdessen
aber griff ich nach dem Ausweis: Es war eine Administratorenkarte,
eine, die alle Türen des Labors aufschloss. Und
doch stand kein Name auf ihr: Stumpf blickte ich auf den
grauen Platzhalter, wo normalerweise das Gesicht des Mitarbeiters
hätte sein sollen. Das war die zweite meiner Fehlentscheidungen
an dem Tag: Nachdem ich aufgestanden war
und mich umgesehen hatte, steckte ich die Karte in meinen
Schuh. Dann auf einmal vollkommene, schneidende Stille:
Der Alarm hatte ausgesetzt.
Es war vier Uhr morgens, als sich die Karawane von 4153 Menschen,
so die spätere Zählung, aus den tiefsten Eingeweiden
des Labors, in denen sie gewühlt hatte, wieder nach oben
aufmachte. Nach der stundenlangen Betäubung durch die
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Finsternis blendete die sterile Perfektion nun, und wir hatten
uns die Hände über die Augen halten müssen. Ich selbst
war todmüde auf unseren Kojenflur getreten, da packte mich
jemand von hinten: Es war Pawel, perfekte Frisur, und das
weiße Hemd samt Krawattenschleife in unverrückter Makellosigkeit.
Für einen Augenblick ergriff mich die alte Aggression
wieder.
»Was soll das?«, fragte ich und drückte ihn gegen die Brust.
»Hast du dich in der Besenkammer versteckt? Wir haben
unten in den Speicherräumen unter Lebensgefahr gearbeitet,
um die Systeme am Laufen zu halten.«
Ich, zerschlissen und mit schwarzen Flecken auf dem Kittel,
empfand ein Gefühl der Ungerechtigkeit, das mir die
Augen eintränte. Er aber manövrierte mich, ohne ein Wort
zu sagen, zurück über die Stiege und in die Mensa, wie man
einen alten Karren schiebt – kaum irritiert davon, dass ich
immer wieder stecken blieb und bockte.
»Sie haben mich in die Koordination gerufen, sorry.«
Ich hätte ihn anschreien wollen, aber riss mich am Riemen
der Zivilisiertheit, denn um uns waren ja Leute.
»Was haben sie gesagt?«, fragte ich.
Pawel befand es nicht einmal wert, mir zu antworten, sondern
bewegte mich in den Aufzug und drückte die fünf, vollkommen
indolent gegen meine Fäuste in den schwarzverkohlten
Manteltaschen. Wir stiegen auf Höhe der Promenade
aus, die tagsüber unter einem sonnendurchfluteten Lichtdeck
lag, und Pawel zog mich in die Mitte des künstlichen
Birkenwaldes. Jetzt, nachdem die Kühlungsmodule wieder
angesprungen waren, konnte ich im Neonlicht sehen, dass
die ehemals kräftigen Blätter der Bäume durch die über uns
hinweggerollte Hitze schlaff herabhingen. Sie hatten überlebt,
doch mit deutlichen Spuren.
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Die Allee war leergefegt. In den zwischen den Baumgruppen
eingeduckten Geschäftchen lagen umgeworfene
Produktdisplays, Becher, fallengelassene Taschen – Hinterlassensschaften
einer plötzlichen Flucht. Das künstliche
Ultraviolettlicht, das den Pflanzen einen unablässigen, nie
endenden Tag vorgaukelte, fiel nun in aufgeweichten Streifen
über unsere Gesichter. Tiefe Schlagschatten, die sich in Pawels
knabenhafte Züge gruben – bei ihrem Anblick empfand
ich plötzlich ein Schuldgefühl für meinen vorhergegangenen
Ausbruch.
Er hatte mir inzwischen ein Bier in die Hand gedrückt und
wollte sich schon in eine der Hängematten zwischen den
weißen Bäumchen winden, da erst sah er erstaunt an mir herab.
Pawel, dieses verfluchte Genie – aber eben auch Pawel:
kindlich und zu jedem Zynismus außerstande, als hätte er
einen eingebauten Filter für alles, was andere marterte. Als
er mich in die Arme schloss, verflüchtigte sich der letzte
Rest meiner Wut, die plötzliche Scham, der ganze abgelagerte
Gefühlsmüll. Ich ließ mich in die Hängematte neben
ihn fallen. Alles war hochpoliert und klimatisiert; zum ersten
Mal fiel mir auf, wie artifiziell die Singvogelstimmen
vom Band klangen. Dann lehnte ich mich zurück und nahm
einen Schluck von meinem Bier.
»Knotensprünge«, sagte Pawel. »Das war die Ursache.«
»Heißt was?«, fragte ich zerstreut; ich hatte mir das Bier
versehentlich ins Hemd geschüttet.
»Es war eine Lappaliensimulation, ein wirkliches Routineverfahen.
Jemanden einladen, war der äußerst generische
Titel.«
»Und?«
»Ich hab mir die Aufzeichnungen angeschaut. Zuerst alles
ganz normal. DAVE schaltete ins Unterscript ›Wie man
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einen Gast bewirtet‹. Dann wurde es auf einmal ziemlich lustig,
weil jemand offensichtlich einen Fehler in der Objekt-
Subjekt-Zuordnung übersehen hat. DAVE hat den Gast aufgeschnitten
und mit Zwiebeln in den Topf geworfen, während
er dem Rinderstück ein Glas Wein servierte.«
»Nec scire fas est omnia. Klingt eigentlich fast komödiantisch.
«
»Dann aber ist irgendwas schiefgelaufen. Die Simulation
hat aus undurchschaubaren Gründen Millionen von Suchläufen
getriggert«, sagte Pawel und faltete seine Beine in die
Hängematte. »Plötzlich wurden immer mehr SCRIPTs in den
Buffer geladen, hunderte, tausende. Sachen, die mit dem,
was geschah, gar nichts zu tun hatten, sowas wie ›Einem
Wegweiser folgen‹ oder ›Einen Nagel in die Wand schlagen‹.
›Einen Umbau planen‹. Von da an ist alles eskaliert. Wie eine
unendliche Verzweigung – «
»Was meinst du mit Verzweigung?«
»Man konnte zuschauen, wie immer mehr und mehr
Prozessorkraft hineingeflossen ist – zack, von 200 auf
4000 SCRIPTs, von 4000 auf 10 000, und keines hat angehalten,
sie waren alle gleichzeitig aktiv.«
»Es ist schwer vorstellbar, dass das Kochen einer Rindskeule
sämtliche Kapazitäten der hochentwickeltsten K. I.
aller Zeiten ausreizt«, sagte ich und stellte mein Bier ab, um
zu verschleiern, dass meine Hand zitterte.
»Ich kann dir nur sagen, was ich gesehen habe. Und es ist
unmöglich, dass – «
»Ja, genau, das ist es – unmöglich«, sagte ich und stand
auf. »Ich muss jetzt ins Bett, meine Schicht beginnt in zwei
Stunden – wenn es morgen überhaupt eine Schicht geben
sollte.« Ich ließ ihn in der Hängematte zurück, obwohl wir in
derselben Koje wohnten.
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Die Gänge waren wie leergefegt – Putztrupps hatten alles
wieder in den gewohnten reinen, weißen Glanz zurückpoliert,
einen Zustand der Makellosigkeit, der das Vorgefallene wie
einen Fiebertraum erscheinen ließ. Die Sicherungssysteme
surrten niederfrequent, auf den Überwachungsmonitoren
waren nur grüne Lichter; kurz gesagt: Es war beunruhigend,
wie kalmiert das Labor war, als ich nun den Weg zurück
nahm. Nur ein paar angebrannte Stellen, dort, wo die Kabel
durch die Wände gebrochen waren, verrieten, dass vor einigen
Stunden noch infernalische Hitze geherrscht hatte.
Im Zustand der wiederkehrenden Trägheit spürte ich
einen vergessenen Reiz: Die Karte in meinem Schuh stemmte
sich gegen meine Sohle. Das war die dritte und finale Fehlentscheidung
an diesem Tag: Ich kniete ich mich nieder und
gab vor, meine Schnürsenkel zu binden, bis ich sicher war,
dass mich niemand beobachtete. Ich förderte die Karte unter
meinem aufgespreizten Fuß zutage. Ich warf einen kurzen
Blick darauf und steckte sie wieder ein, ehe ich in meine Koje
zurückkehrte.
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