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Die Zahl als Symbol

 

So versucht Pythagoras einer uralten Tradition folgend, mit den Zahlen zusammenhängende geometrische Muster aufzuspüren: Er betrachtet die Dreieckszahlen  und so weiter, die Quadratzahlen und so weiter, sowie ähnliche Zahlenmuster. Er unterscheidet zwischen geraden  Zahlen, die man zu halb so vielen Paaren ordnen kann, und ungeraden Zahlen,  bei denen die Paaranordnung den Rest 1 übrig lässt. Interessanterweise gelten  bei manchen Vertretern der Zahlensymbolik die ungeraden Zahlen als die »guten« und die geraden Zahlen als die »bösen« Zahlen – vielleicht deshalb, weil die  Summen der ersten ungeraden Zahlen immer Quadratzahlen ergeben4. Bei den  geraden Zahlen gibt es keine vergleichbare Beziehung.  Geometrische Muster wie diese standen der Zahlensymbolik Pate. Dabei ist  interessant, dass in der Antike die Eins unter den Zahlen eine Sonderstellung  einnahm: es ist die Einheit, mit der man im Grunde nicht zählt. Darum ist 1 das  Symbol des Unteilbaren, schließlich des Göttlichen.  6 Yin und Yang  2 war den alten Griechen die erste eigentliche Zahl. Sie  symbolisiert Gegensatz, Polarität, Trennung: die Zweiheit  von Frau und Mann, von rechts und links, von gut und böse, von aktiv und passiv, von Sonne und Mond, von Tag und  Nacht. In der christlichen Tradition setzt sich dies fort: in  der Polarität des Alten und des Neuen Testaments sowie  in jener von Gott und Mensch im Blick auf Jesus, der diese beiden Naturen nach christlicher Lehre in sich vereinigt.  Aber schon das Judentum kennt die symbolische Bedeutung der 2, am deutlichsten symbolisiert in den beiden Gesetzestafeln, die Moses von Gott für sein Volk erhielt.  3, die – von 1 abgesehen – erste Dreieckszahl, symbolisiert in ihrem geometrischen Muster etwas Umfassendes: den Inhalt des Dreiecks, das die drei Eckpunkte einschließen. Mit diesem Umfassenden ist zugleich die Idee des Vollkom-8 Abraham wird von Gott in Gestalt dreier  Männer besucht  menen verwoben: In der Dreiheit von Mutter, Vater, Kind sah man seit alters her  die Urzelle menschlichen Zusammenlebens. Die Dreiheit trat in antiker Zeit oft  in Form göttlicher Triaden auf: im Götterdreigestirn Anu, Enlil, Ea des alten Babylon, in Brahma, Wischnu, Schiwa Indiens, schließlich auch in der christlichen  Trinität. In der jüdischen Bibel spielt 3 ebenfalls an verschiedenen Stellen eine  Rolle von symbolischem Wert: Bei Jesaja lesen wir das folgende berühmte Wort  in der Übertragung von Buber und Rosenzweig:  Im Todesjahr des Königs Usijahu  sah ich meinen Herrn sitzen auf hohem und ragendem Stuhl,  seine Säume füllten den Hallenraum.  Brandwesen umstanden oben ihn,  sechs Schwingen hatten sie, sechs Schwingen ein jeder,  mit zweien hüllt er sein Antlitz  mit zweien hüllt er seine Beine,  mit zweien fliegt er.  Und der rief dem zu und sprach:  Heilig heilig heilig  ER der Umscharte,  Füllung alles Erdreichs  sein Ehrenschein!  Im ersten Buch Mose kommt – in geheimnisvoller Weise, die der Text durch  einen Wechsel von Dreiheit und Einheit zum Ausdruck bringt – der eine Gott in  Gestalt dreier Männer zu Abraham:  ER ließ von ihm an den Steineichen Mamres sich sehen,  als er bei der Hitze des Tags im Einlass des Zeltes saß.  Er hob seine Augen, sah:  da, drei Männer, aufrecht über ihm.  Er sah, lief vom Einlass des Zelts ihnen entgegen und neigte sich zur Erde  und sprach:  Mein Herr,  möchte ich doch Gunst in deinen Augen gefunden haben,  schreite an deinem Knecht doch nimmer vorüber!  

 

(Taschner, Rudolf. Der Zahlen gigantische Schatten (German Edition) (S.12-15). Springer Fachmedien Wiesbaden. Kindle-Version.) 

 

 

 

Und in der Schöpfungsgeschichte heißt es bei der Erschaffung des Menschen:  Gott schuf den Menschen in seinem Bilde,  im Bilde Gottes schuf er ihn,  männlich, weiblich schuf er sie.  Die Vollendung der Schöpfung wird durch das dreimalige »schuf« in diesen  drei Zeilen betont. 

 

4, die – von 1 abgesehen – erste Quadratzahl, symbolisiert kosmische Begriffe: die vier Wind- und Himmelsrichtungen, die vier Jahreszeiten, die vier antiken Elemente  des Empedokles: Feuer, Wasser, Erde, Luft. Die Bibel kennt  die vier Ströme Pischon, Gichon, Chiddekel, Euphrat, die  den Garten Eden umfließen. Und Daniel erblickt in seinem  Traum vier Tiere, die als Symbol der Könige des Weltreichs  aus dem von vier Winden aufgewühlten Meer entsteigen.  Die Bedeutung der Zahlen 3 und 4 wird in der Bibel  überdies dadurch hervorgehoben, dass das Volk Israel drei  Urväter Abraham, Isaak, Jakob und vier Urmütter Sara,  Rebekka, Lea, Rachel besitzt. Die Summe 7 von 3 und 4  und das Produkt 12 von 3 und 4 spielen dementsprechend  gewichtige Rollen: 

 

7 ist zugleich die Zahl der mit freiem Auge sichtbaren Wandelsterne Sonne,  Mond, Merkur, Venus, Mars, Jupiter, Saturn und bezeichnet so die Vollkommenheit des Universums. Die jüdische Bibel ist voll von Anspielungen auf die Zahl 7  und die christliche Religion setzt diese Tradition fort: in den sieben Broten, mit  denen Jesus die Fünftausend speist, in den sieben Bitten des Vaterunser, in den  sieben Sakramenten, in den sieben Tugenden, in den sieben Todsünden, in den  sieben Gaben des Geistes, in den sieben Werken der Barmherzigkeit. 

 

12 ist die Zahl des Tierkreises am nördlichen Nachthimmel, die alten Ägypter teilten den Tag in zwölf Stunden und das Jahr in zwölf Monate, die Gnosis  kennt zwölf Äonen. Das Volk Israel besteht aus zwölf Stämmen, dementsprechend kennt die Kirche als das neue Israel zwölf Jünger Jesu und im Buch der  Richter wird von zwölf großen Richtern berichtet.  

 

Die Verdopplung von Zahlen verstärkt zugleich ihre  Symbolkraft. In den oben zitierten Versen von Jesaja hatten die »Brandwesen« sechs, zu drei Paaren gegliederte  Schwingen. Das geometrische Muster der Zahl 6 ist einerseits das der auf 3 folgenden Dreieckszahl, andererseits  besitzt 6 als verdoppelte Dreieckszahl 3 das geometrische  Muster des »Magen David«, des Davidsschildes, zusammengesetzt aus zwei gleichseitigen Dreiecken. Ganz ähnlich ist es um die Zahl 8 bestellt, deren geometrisches Muster aus zwei zueinander um 45 Grad versetzten Quadraten entsteht, die jeweils die Quadratzahl 4 symbolisieren.  Das Oktogon findet sich entsprechend in einer Vielzahl  von Entwürfen in Architektur und bildender Kunst. Im  Buddhismus ist der aus dem Oktogon hervorgehende, in  acht Sektoren gegliederte Kreis das Symbol des achtfachen  Wegs, der aus dem Jammertal des noch unvollendeten Daseins führt. Der Nobelpreisträger für Physik Murray GellMann hat eine neue, völlig unerwartete Bedeutung der Acht  entdeckt: sie symbolisiert unter anderem jene Elementarteilchenfamilie, zu denen Protonen und Neutronen, die Bestandteile des Atomkerns, gehören.  Am geheimnisvollsten war den Pythagoräern das von  der Zahl 5 gebildete geometrische Muster: das Pentagramm.  Zieht man im regelmäßigen Fünfeck die fünf Diagonalen,  entsteht in der Mitte wieder ein neues regelmäßiges Fünfeck, in dem wieder die Diagonalen gezogen werden können, und dies ohne Ende. Die Teilstrecken, die durch die  Schnitte der Diagonalen entstehen, bilden zueinander ein  besonders ansprechendes ästhetisches Verhältnis, welches  später der »goldene Schnitt« genannt wurde und in unzähligen Maßverhältnissen der bildenden Kunst und der Architektur auftaucht. Zu-dem bildete die Aufgabe, den goldenen Schnitt mit Hilfe eines Zahlenverhältnisses zu beschreiben, für die Schüler des Pythagoras ein unlösbares Problem –  ein sogar prinzipiell unlösbares Problem, wie sie zu ihrem Erstaunen erkennen  mussten, aber davon soll in einem anderen Zusammenhang berichtet werden.  

(Taschner, Rudolf. Der Zahlen gigantische Schatten (German Edition) (S.15-18). Springer Fachmedien Wiesbaden. Kindle-Version.) 

 

 

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